Transsib

Ich liebe die transsibirische Eisenbahn. Ich weiß, das ist ein Schwächegeständnis, aber es ist nun mal so.

Du wachst morgens auf. Deine Uhr sagt dir, es ist acht. Aber du bist unterwegs nach Osten und du weißt, dass es eigentlich neun ist. Dein Bett ist bequem. Es liegt weder Grund noch Verlangen vor, aufzustehen. Nichts, was du tun oder vermeiden möchtest.

In der riesigen, einförmigen Weite Sibiriens verlieren sich alle Zeitmaße, haben keine Gültigkeit, keine Bedeutung mehr. Die Stunden werden unförmig, formlos, zerdehnt wie die Uhren in den Bildern Salvador Dalis. Man müsste immer wieder die Zeiger stellen. Doch wozu? Was würde es bringen? Der wichtigste Maßstab der Zeit ist die Veränderung. Aber hier hast du kein Gefühl der Veränderung. Du lebst in Erstarrung, in innerer Reglosigkeit. Du gehst in der Zeit auf, verlierst dich in ihr, wie in den Ebenen von Christopher Nolans Film „Inception“.

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Deshalb liebe ich die Reise mit der transsibirischen Bahn. Du liegst in deinem Bett mit Fug und Recht untätig. Als Gefangener in irgendeinem virtuellen Raum. Am Fenster kriechen Ebenen und ziehen Wälder vorbei. Birkenwälder, unendliche Birkenwälder. Du schläfst mit ihnen ein, du wachst mit ihnen auf. So als hätte sich in der Zwischenzeit nichts bewegt. Millionen von Birken und immer ist irgendwo eine Elster in Sicht.

Du hast nichts zu schauen, aber auch keinen Grund, warum du aufhören solltest zu schauen. Du liegst wie in einem Vakuum. Suchst dir einen albernen Grund, um dich zum Aufstehen zu zwingen: Bei der zehnten Elster von jetzt, oder wenn die Lokomotive das nächste Mal pfeift. Langsam überkommt dich das Gefühl der Bange um dich selbst. Dieser anhaltende Scheintod könnte deinem Charakter nachhaltig Schaden zufügen, wenn du ihm nicht mit einem Rest an Selbstdisziplin Grenzen setzt. So erhebst du dich endlich, wäscht dich oberflächlich, nimmst dein Marmeladenglas und wankst dem Speisewagen zu. Es ist elf, der Speisewagen ist leer. Du bestellst Tee und Brot und verzehrst appetitlos dein Frühstück.

Du gehst zurück in dein Abteil, setzt dich hin, beginnst ein Buch zu lesen. Du liest und liest und liest. Irgendwann blickst du auf. Aber nichts hat sich verändert. Keine Ablenkung, keine Störung weit und breit.

In den ersten Tagen nützt du noch die Aufenthalte und gehst kraftvoll und dynamisch auf den Bahnhöfen hin und her. Aber nach und nach gibst du diese Gepflogenheit auf. Je tiefer du in deiner dahingleitenden Zelle nach Asien getragen wirst, desto mehr verlieren die gewohnten Rituale an Kraft. Es wird immer schwerer, dir selbst einzureden, dass du ein unwiderstehliches Verlangen nach körperlicher Übung hast. Anfangs bist du beunruhigt, denn dies ist Sibirien, der Osten, der berüchtigte Osten, wo Menschen in die Brüche gehen, hat man uns in der Schule beigebracht. Dir wird angst, du könntest deine Herrschaft über dich verlieren und dasselbe Schicksal erleiden. Aber du tust nichts dagegen. Und nicht lange, so hört auch dein Gewissen auf, dich zu quälen, und es scheint dir ganz natürlich, schlaff in der Sonne zu stehen, verwahrlost wie ein streunender Hund, verwildert und ungepflegt, wie alle anderen auch.

Langsam wird es Abend. Irgendwo in weiter Ferne, aus der du gekommen bist, geht die Sonne unter. Das schräge Licht gibt der Landschaft etwas Angenehmes, etwas Weiches und Sibirien erscheint mit einem Mal vertrauter, freundlicher und zugleich geheimnisvoller als unter dem harten Licht der Mittagssonne. Deine Augen sind müde und du legst dein Buch weg. Erinnerst dich in die grau vorüber schleichende Landschaft an Bilder aus deiner eigenen Vergangenheit. Ein Gefühl der Verlassenheit überkommt dich. Du sitzt nachdenklich da, bis Sibirien im Dunkeln erloschen ist, und das schmutzige Fenster dir nichts mehr zeigt als dein eigenes Gesicht. Stumm, schattenhaft und mit größter Wahrscheinlichkeit unrasiert.